Auf dem Bernina-Pass oder: Wo der Himmel die Erde berührt

Es mir bequem machen und die gut zweistündige Strecke bis nach Tirano im Zug sitzen, das wollte ich nicht. So habe ich am Morgen, als ich im 'Hotel Stille' aufwache, folgende Idee: In Sankt Moritz in die Bernina-Linie einsteigen, an der Station 'Ospizio Bernina' aussteigen und bis zur nächsten Station 'Alp Grüm' zu Fuß gehen. Die flexible Nutzung des Interrail-Tickets sowie die einstündige Taktung der Linie machen dies möglich (siehe mehr dazu unter Tipps auf der nächsten Seite). 

 

Bilder der einzigartigen Hochgebirgsebene um den Bernina-Pass hatte ich schon gesehen. Doch die Einmaligkeit dieser Landschaft lässt sich nur sinnlich erfassen, wenn man alles mit eigenen Augen sieht und riecht. Als ich auf gut 2330 Metern über dem Meeresspiegel entlang des Lago Bianco wandle, kommt es mir im wahrsten Sinne des Wortes überirdisch vor. Oder: Ähnlich wie Nietzsche die Landschaft rund um Sils Maria als zwischen "Himmel und Erde" beschrieb, habe ich den Eindruck, dass hier der Himmel die Erde berührt. 

Nach gut eineinhalbstündigem Spaziergang komme ich an der Station Alp Grüm an und werde mit diesem Blick auf das Schweizerische Tal Poschiavo belohnt, in dem Italienisch gesprochen wird:

Ebenso sieht man von Alp Grüm direkt den Palügletscher, der seit Anfang der 1990er Jahre schmilzt und eines Tages verschwunden sein wird, wenn das mit der Erderhitzung so weitergeht: 

(Der Helikopter, der auf dem Foto zu sehen ist, brachte übrigens im Fünfminuten-Takt aus dem Tal frischen Beton für Bauarbeiten, nur so geht es in der Bergwelt!)

Auf nach Italien!

Von Alp Grüm, gelegen auf 2091 Höhenmetern (ü. M.), fuhr ich dann mit der Bernina-Bahn runter durch das Tal von Poschiavo nach Tirano. Wie schon die Albula-Linie, ist auch diese Bahn ein Meisterwerk der Ingenieurskunst und gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe: Mit einem Gefälle von bis zu 70 Promille geht es von Alp Grüm über mehrere Kehren hinunter nach Poschiavo, steilere Bahnstrecken gibt es in der Welt nur ganz selten. 

Ein weiterer Höhepunkt der Bernina-Linie ist der Kreisviadukt von Brusio. In 142 Metern winden sich die beide Zuggleise in einer Schleife um 360 Grad, um auf diese Weise zehn Höhenmeter wettzumachen und dann auf der Sohle des Tals von Poschiavo anzukommen. 

Und dann, nur ein paar Minuten später, ist man in Italien und erreicht Tirano, Endstation der Bernina-Linie und Hauptort der Provinz Sondrio in der Lombardei.

 

Ich steige aus und merke sofort, dass ich in südlichen Gefilden jenseits der Alpen bin: Es ist heiß, mehr als 30 Grad Celsius. Leider ebenfalls sehr schnell werde ich an die Corona-Pandemie erinnert, die sich in der Schweiz gut vergessen lässt. Denn hier trägt jeder, auch auf den Straßen, einen Mund-Nasen-Schutz. In der Eidgenossenschaft ist man (während der Zeit meiner Reise) dazu nicht verpflichtet. 

 

Grenzenloses und freizügiges Europa: Mein Pass wird nicht kontrolliert. Ich setze mich nieder in ein Straßencafé und esse zu Mittag. Ich schaue mir das Städtchen an, in dem rund 9000 Menschen leben. Ich kaufe Proviant für die nächsten Tage. So kann ich mich vor den (aus deutscher Sicht) saftigen Preisen in der Schweiz drücken. Um 17.41 Uhr fährt der letzte Zug zurück nach Sankt Moritz. Als ich wieder am Lago Bianco vorbeikomme, geht langsam die Sonne unter. Ein erfüllter Tag neigt sich dem Ende zu.