Grenzenlos - Hier findet Ihr Erlebnisse in chronologischer Folge

Zeitenschmelze am Gletscher

Die Berge heißen Diavolezza, Bernina oder Morteratsch. An ihren Hängen finden sich Felder des ewigen Eises. Hoch in den Alpen - wobei nichts für die Ewigkeit ist. Denn die Erderwärmung macht auch dort keinen Halt. Die Gletscher schmelzen. Gehört hatte ich dies schon. Umso eindrücklicher ist es, selber zu sehen und zu begreifen. Dies tat ich am 1. Juli 2021, mein erster Trip nach der Corona-Reisesperre galt wieder der Schweiz.

 

Eingestiegen in der Talstation auf dem Bernina-Pass und zehn Minuten später auf knapp 3000 Metern. Die Kabine gleitet galant und geschwind in die Höhe, die Autos, Menschen und Züge werden zur Miniatur, hingegen nimmt der Schnee merklich zu, und Seen sind zum Teil zugefroren. Leider keine klare Sicht von der Bergstation auf die Gipfel der Berge, die noch einmal 1000 Meter höher sind. Dafür das Gefühl, in einer Wolkendecke zu stecken und auf Samt zu gehen. 

 

Ich komme mit einer Schweizerin ins Gespräch, die ähnlich staunt wie ich. Sie sei schon mehrfach hier oben gewesen. Und ja vor 10 Jahren hätte der Gletscher noch weiter ins Tal gereicht. Die weißen Decken, die man bei der Auffahrt sehen würde, seien der zaghafte Versuch, das Abschmelzen der Gletscher zu verhindern, indem man das Eis quasi in Watte einpackt, um es damit vor den Sonnenstrahlen zu schützen. 

 

Ihr Tochter habe jüngst eine Exkursion mit der Schule zum Morteratsch-Gletscher gemacht. Ihre Klasse sei über das Eis gestapft und der Klassenlehrer hätte erzählt, dass er bald nicht mehr da sei. "Schnee von gestern" ist hier eine traurige Devise. Nach einer halben Stunde am Gletscher (es ist nur 4 Grad warm) nehme ich die nächste Fahrt zurück ins Tal. Ich weiß jetzt, wo die Menschen hinreisen sollten, die den Klimawandel leugnen (10.07.2021). 


Die Geschichte vom Schrank und der Freude

In diesen Tagen ist es wichtig, das Geglückte festzuhalten, die Freude, die Leichtigkeit der Geschehnisse, wie sie sich manchmal so ganz unverhofft entfalten, während weltweit die Corona-Fallzahlen wieder rasant steigen und Rufe nach einem zweiten Lockdown auf das Gemüt drücken können. 

 

Ich brauche einen neuen Küchenschrank. Am Freitag (16.10.20) war ich deshalb bei Ikea. Endlose Gänge, vorgezeichnete Wege, 0815 heißen in der Küchenwelt METOD oder VEDDINGE. Diese Modelle überzeugten mich nicht, sie sollen nicht bei mir einziehen. So stöbere ich am Abend bei E-Bay und erspähe einen alten, weißen Schrank, Stil "shaby chic". Er habe ein paar Macken, aber Charme, so verrät die Annonce. Und sei in Neukirchen im Bergischen Land abzuholen. Mit der Besitzerin Manuela vereinbare ich, den Schrank am kommenden Sonntag um 11 Uhr bei ihr anzuschauen. 

 

Also auf! 35 Minuten mit der Regionalbahn von Köln nach Opladen-Leverkusen, von dort ein 30-minütiger Fußmarsch durch den Wald. Herbstwetter, leicht golden die Farben, bunt die Blätter. Die Menschen, die mir begegnen, zeigen ihre Münder. Ein freundliches "Guten Morgen", ein Aufeinanderzugehen, bevor wir aneinander vorbeigehen. Hier obsiegt das menschliche Miteinander, während sich die Kölnerinnen und Kölner aus Angst vor Infektionen vermehrt meiden. 

 

Pünktlich komme ich bei Manuela an. Die Mittfünfzigerin mit burschikosem Kurzhaarschnitt wohnt im Erdgeschoss eines kleinen, typisch bergischen Fachwerkhauses. Sie redet viel. Sie erzählt mir, dass sie Möbel restauriert, damit es ihr gut geht, dann bestreicht sie sie mit weißer Farbe. Sie öffnet die Garage. Dort steht er stolz und schlank: Der weiße Schrank. 

Manuela merkt, dass ich diesen Schrank möchte. Er passt genau in die Ecke meiner Küche. Das Besondere ist: Man kann ihn ausklappen, die Front wird dann zu einem Tisch. 

 

Manuela ist nicht profitorientiert, sie ist gut und herzlich. Sie geht auf mein Preisangebot ein und schenkt mir dazu zwei antike Stühle. Sie hat eine Bitte. Ich solle den Schrank so schnell wie möglich abholen. Denn sie brauche Platz. Sie schenkt mir zum Abschied karamellisierte Mandeln und gibt den Tipp, den Sinneswald von Leichlingen in der Nähe zu besuchen. 

Dort ist es idyllisch. Ein Teich, ein Waldeshang, den man in Serpentinen beschreiten kann. Das Naturreservat bietet Platz für Kunstausstellungen zu einem speziellen Thema.  Aktuell haben Schüler und Künstlerinnen aus der Gegend in Skulpturen gefasst, was Glück für sie bedeutet. 

 

Der Name des Waldes zeigt seine Wirkung. Dort fällt mir ein, meinen Kumpel Benni zu fragen, ob er den Schrank für mich transportiert. Benni fährt gerne Auto. Ich rufe ihn am Nachmittag an. Er willigt sofort an. Er hätte auch gerade Zeit. So fährt er nach Neukirchen und holt den Schrank für mich ab. Schneller geht es nicht.  

 

Zwei Stunden später ist der weiße Kasten bei mir. Am frühen Morgen hatte ich mich aufgemacht. Ich bin durch die Natur gewandert. Ich bin freundlichen Menschen begegnet. Manuela und Benni, Passsanten auf den Waldwegen, die bunte Natur - sie alle haben mich beschenkt. Die Geschehnisse haben sich einfach entfaltet. Festhalten. Der Schrank, der nun in meiner Küche steht, ist Zeugnis dieses Glücks und meiner Freude (20.10.2020).


"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch"

Es ist nur eine kurze Reise mit dem Rad auf die "Schäl Sick", die rechte Rheinseite von Köln. Umso eindrücklicher die Erlebnisse am 6. Juni 2020: Zehntausend Menschen sind in die Deutzer Werft gekommen, um gegen Rassismus zu protestieren und sich mit den Demonstrierenden in den USA zu solidarisieren. 500 Personen waren erwartet worden. 

Am 25. Mai war der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis (USA) getötet worden. Acht Minuten und 46 Sekunden hatte ein Polizist sein Knie in das Genick des 46-Jährigen gedrückt, sodass dieser keine Luft mehr bekam und erstickte. "I can't breathe" und "Black Lives Matter" sind nun zu weltweiten Parolen geworden. Von Sydney bis nach Washington, in Köln, München und Hamburg: Hunderttausende von Menschen protestieren diese Tage rund um den Globus. Die Schlachtrufe gelten auch dem US-Präsidenten Donald Trump, der mit gewaltverherrlichenden Worten die Proteste in den USA anstachelt, droht das Militär einzusetzen und mit alldem die Gesellschaft weiter spaltet. 

Von Corona-Abstandsregeln ist nichts zu spüren. Kaum Polizei ist zu sehen. So gut wie alle Demonstrierenden tragen einen Mundschutz. Von ihnen sind viele unglaublich jung. Die Proteste sind friedlich. Acht Minuten und 46 Sekunden, so lange wie der qualvolle Todeskampf von George Floyd dauerte, setzen sich die Menschen nieder und schweigen. "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" - der Vers aus Hölderlins Hymne 'Patmos' geht mir durch den Kopf, als ich der gespenstischen Stille lausche. Mein Gedanke ist gepaart mit der großen Hoffnung, dass der Spuk von Donald Trump nach den Wahlen am 3. November 2020 vorbei sein wird (07.06.2020).