Bei Nietzsche in Sils maria

"Ich habe es noch nie so ruhig gehabt. … und die Wege, Wälder, Seen, Wiesen sind wie für mich gemacht.... Hier im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden: zwar die Anfälle kommen hierher wie überall hin, aber viel milder und menschlicher. Ich habe eine fortwährende Beruhigung und keinen Druck, wie sonst überall; die Aufregung hört hier für mich auf. Ich möchte alle Menschen bitten, 'erhaltet mir nur die 3, 4 Monate Engadiner Sommer, sonst kann ich wirklich das Leben nicht länger ertragen' ". 


Friedrich Nietzsche am 7. Juli 1881 in einem Brief an seine Schwester, zitiert aus: Sabine Appel: Friedrich Nietzsche, München 2011. 

Die Wolken

Wer die "Wolken von Sils Maria" (2014) mit Juliette Binoche in der Hauptrolle sieht, erhält eine erste Ahnung von der einzigartigen Schönheit des "Engadin". Dabei könnte ich auch "Inntal" schreiben, denn das ist das Engadin:

 

Es ist das erste Tal, das der Inn auf etwa 1800 bis 1600 Höhenmetern durchfließt, nachdem er auf 2564 Höhenmetern einer Quelle in den Alpen entsprungen ist. Inntal heißt auf Rätoromanisch, der hiesigen Sprache, "Engadin". Es liegt im Südosten der Schweiz im Kanton Graubünden.

 

In dem Film verbringen Maria Enders (gespielt von Juliette Binoche) und ihre Assistentin mehrere Tage in den dortigen Bergen und gehen Wandern, wobei Enders ihre neue Filmrolle einübt. Dabei begegnen sie den "Wolken von Sils Maria". Diese können in der Gegend gefährliche Winde entfachen, wenn sie sich, vom Malojapass herkommend, die Berge hoch schlängeln (siehe mehr zu diesem einzigartigen Wetterphänomen hier).

Die gewaltige Naturkulisse im Film, der so anmutig klingende Name "Sils Maria" sowie das Wissen, dass in dieser Hochgebirgslandschaft einst Nietzsche und viele andere Denker ihre Sommer verbrachten, hatten bei mir eine eigenartige Sehnsucht und Neugier geweckt. Und so fuhr ich -von Italien kommend- am 03. August 2017 über die engen Serpentinen des Malojapasses mit dem Postauto (das Schweizer Wort für Postbus) dorthin. 

Das Haus

Geschätzt zählt Sils Maria etwa 100 Häuser, von denen neben einer Post und einer Kirche heute die meisten Restaurants und Hotels sind. Und so war es bei meinem ersten Rundgang durch die kleine Ortschaft schnell entdeckt: Das Haus, in dem Friedrich Nietzsche (1844-1900) mehrere Sommer in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts lebte.

 

Auf der Suche nach einem trockenen Ort, der seiner geschundenen Gesundheit gut tun sollte, hatte Nietzsche sich in Sils Maria ein einfaches Zimmer für einen Franken pro Tag gemietet. Zu Gast war er bei der Familie des Bürgermeisters. 

 

Das Haus ist seit 1960 ein Museum und beherbergt Künstlerinnen und Künstler. Man kann an Führungen teilnehmen. So zeigte mir am nächsten Tag André Bloch, Germanistik-Professor und Mitglied der Stiftung 'Nietzsche-Haus', die Stube, in der Nietzsche untergebracht war sowie das gesamte Gebäude. 

 

Als Kölnerin erfreute mich, als ich darin - ähnlich wie im Kölner Dom nur kleiner- ein farbenprächtiges Mosaikfenster und damit in der Ferne ein Stück Heimat entdeckte. Als ich dem Professor sagte, dass dieses ja wie das Richter-Fenster im Kölner Dom aussähe, sagte mir Herr Bloch, dass das bunte Glas im Nietzsche-Haus auch von Richter sei. Noch am Morgen habe er den Künstler mit seinem Hund am Haus vorbeigehen sehen.

Die Seen

Wer auf den Spuren von Nietzsche in Sils Maria wandelt, der muss auch am See von Silvaplana und am Silser See spazieren gehen. Sils Maria liegt zwischen diesen beiden Seen. Sie tragen bei zur einzigartigen Schönheit dieses Ortes:

 

Die Luft ist absolut rein, die Kulisse der Berge vor kristallklarem Wasser ist majestätisch. Hier befinden wir uns zwischen "Himmel und Erde", wie Nietzsche einst, so sagte Herr Bloch bei der Führung, die Landschaft beschrieb. Hier kommt man zu sich selbst. Wenn einem übersinnliche Erlebnisse heimsuchen, dann hier! 

Der See von Sils (oben und unten, unten rechts sieht man die Halbinsel Chasté)

Ein sich offenbarendes Erlebnis hatte Nietzsche, als er am 13. August 1881 am See von Silvaplana spazieren ging und bei Surlej einen riesigen, pyramidenförmigen Granitfelsen am Ufer erblickte.

 

Dieser Fels war Stein des Anstoßes für Nietzsches zentralen, philosophischen Gedanken der ewigen Wiederkehr: Das Leben ist ein ewiger Zyklus; jede Lust, jeder Schmerz, alles kommt wieder. Wer das Leben als Kreis bejaht, stimmt damit zu, jeden Augenblick so zu leben, dass dieser Moment im endlosen Leben wieder erscheint.

 

Die Idee der ewigen Wiederkehr ist zentral im Werk "Also sprach Zarathustra", das Nietzsche in Sils Maria schrieb. Auf der Halbinsel Chasté, die im Silser See liegt und die für Nietzsche ein geliebter Ort war, sind heute die Verse des sogenannten "Mitternachts-Lieds" aus Zarathustra verewigt.

Die Tage, die ich in Sils Maria verbrachte, dürfen im Sinne der ewigen Wiederkehr in meinem Leben immer wieder geschehen. Es waren einzigartige Tage der Kontemplation, Einkehr und Ruhe in wunderbarer, zutiefst beeindruckender Natur. Doch im August 2017 hatte mein Aufenthalt in Sils Maria (vorerst) ein Ende. Der Zauberberg rief.