Skurrile Busfahrt nach Doolin

Während dieser Fahrt entspannte sich eine Diskussion der Zugestiegenen mit ihrer Sitznachbarin, die Fionnuala und mich schier zum Lachen brachte. Und zwar erörterten die beiden Frauen im Detail und im dicksten westirischen Akzent, ob die älteste Frau Irlands 108 oder 109 Jahre alt geworden war. Offenbar hatten sie unterschiedliche Quellen zur Hand. Die Frau, die den Busfahrer zum Umweg bewegt hatte, behauptete das Alter von 108 Jahren, die andere verfocht 109 Lenzen.

Die Argumente gingen hin und her. Unterschiedliche Zeitungen und Radiosender wurden bemüht. Und die wohl treffendste Aussage: Wenn man sagte, dass jemand im 109. Jahr verstorben sei, dann sei er ja de facto 108 Jahre alt gewesen. Fionnuala und ich hörten gespannt zu. Und ich rechnete: So oder so - Die Irin war auf jeden Fall in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts geboren. Sie hatte Irlands Krieg um Unabhängigkeit von Großbritannien (1919-1921), die beiden Weltkriege, den Kalten Krieg, Irlands Aufnahme in die damalige Europäische Gemeinschaft (1973) und schließlich auch noch Brexit miterlebt. Ein langes Leben, in der Tat, und ob es wirklich so erheblich war, in welchem genauen Alter sie verstorben war?!

 

Dennoch ich wollten wissen, welche der beiden Frauen Recht hatte. Was stimmte, 108 oder 109? Normalerweise hätte ich schnell zu meinem Handy gegriffen, um dieses Detail herauszufinden. Doch diesmal nicht. Das Phone war ausgeschaltet, tief im Rucksack, und dabei sollte es auch bleiben. Stattdessen notierte ich. Zu Hause googeln: „oldest woman of Ireland + death + Doolin“, was ich dann auch tat. Probiert es selber aus. Hier nur einer der vielen Treffer. Und das sei verraten: Nora Canavan – geboren am 9. März 1908 - ist 108 Jahre alt geworden!

Versuch Nr. 2: Die Nachrichten ausblenden

Es gibt nur wenige Orte in Europa, in denen man so sehr das Gefühl der Abgeschiedenheit haben kann wie auf Inis Óirr. Deshalb hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, von den Nachrichten verschont zu bleiben, weil sie einfach nicht zu einem vordringen, wenn man das Handy­ ausschaltet.

Die Insel im tiefsten europäischen Westen liegt vor einer Insel (Irland), die wiederum vor einer Insel (Großbritannien) liegt. Auf Inis Óirr leben 250 Einwohner (wenn’s hochkommt), und es gibt eine Kirche und einen Friedhof, ein Postamt, ein kleines Museum, zwei Pubs, ein Hotel, B&Bs und unzählige riesige Steine.

 

Schon kurz nach unserer Ankunft kletterten Fionnuala und ich über diese Felsen, die ein Auswuchs der Landschaft des Burren auf dem Festland sind. Aufgeschichtet ergeben sie die Steinmauern, die man überall sieht. Wir wollten die acht Quadratkilometer große Insel umrunden. Der geteerte Weg hatte schon nach einer halben Stunde Fußmarsch aufgehört.

Der Leuchtturm am südlichen Zipfel wies uns den Weg. Wären wir Robinson Crusoe begegnet, ich glaube, ich wäre nicht wirklich erstaunt gewesen. Denn wir trafen – außer anfangs drei Touristen aus Dublin, die uns trotz GPS nach dem Weg zum „Zentrum“ fragten (!!) – keinen. Wohlwissend, dass ich nicht schiffbrüchig war, genoss ich die Idylle und den endlosen Horizont des Atlantik, der sich bei kräftigen Sonnenschein türkisblau präsentierte.

Dass Fionnuala und ich dennoch in den Sog der Weltnachrichten gerieten, haben wir unserem Hunger zu verdanken, der uns in die Arme der Ereignisse in Deutschland trieb. Und zwar war es ein riesiger Fernseher, der uns in Millisekunden in die Wirklichkeit der Außenwelt versetzte.

 

Zurück von unserer Inselrunde hatten Fionnuala und ich in das Hotel von Inis Óirr geschaut, um zu erfahren, ob dort Essen serviert wurde.  Und dort stand im Zentrum der Bar: Ein riesiger Flachfernseher, 80 Zoll diagonal, mindestens, der Ton augeschaltet, doch unausweichlich zog er meine Blicke auf sich. Denn dort auf dem Bildschirm liefen Polizisten mit ihren Maschinengewehren im Anschlag.

 

Ich erkannte schnell, dass es deutsche waren, denn die olivgrüne Limettenfarbe der deutschen Polizeiuniformen ist einzigartig. Zudem sah ich Frauen, Männer und Kinder, die panisch ein riesiges Gebäude verließen. Darunter war eingeblendet „Shooting in Munich“, und es liefen kontinuierlich Zeilen von links nach rechts, die über bewaffnete Täter in einem Einkaufszentrum informiertenIn der linken Ecke oben klaffte rot: „Sky News – Breaking News“.

Recht schnell dämmerte mir, dass sich der erste Terroranschlag des Islamischen Staats in Deutschland ereignet haben musste. Dieser Verdacht wurde von Iren erhärtet, die erkannt hatten, dass ich Deutsche war und mir – auf der winzigen Insel am westlichsten Rande Europas – ihr Beileid aussprachen. Fionnuala dachte wie ich. Da unsere Handys ausgeschaltet in unserer Pension lagen, konnte ich – diesmal unfreiwillig – keine Nachrichten aus Deutschland empfangen.

 

Fionnuala und ich blickten gebannt auf den Bildschirm, auf dem sich endlos dieselben Bilder wiederholten.Erst am nächsten Tag erfuhren wir, dass keine IS-Terroristen, sondern ein junger Deutscher amok gelaufen war und dass wir nicht die einzigen gewesen waren, die die Falschen als Täter verdächtigt hatten.

 

Wie absurd das Gefühl der Erleichterung, dass uns beschlich, obwohl gleich viele Menschen gestorben und verletzt worden waren. Warum sind wir viel mehr erschreckt, wenn islamistische Terroristen die Tat verüben als ein Deutscher? Europa in Aufruhr, nervös, konfus. Aus genau diesem Grund hatte ich mal für ein paar Tage die Nachrichten ausblenden wollen.

 

Aber wie ich auf dem kleinen Eiland Inis Óirr erfuhr: Selbst in aller Abgeschiedenheit ist es unmöglich, den Nachrichten zu entfliehen. Fernseher und Sky News lauern. Der einzige sichere Schritt ist wohl, ganz auf Elektrizität zu verzichten. Das ist dann aber zu viel des Guten und mir wahrhaft zu radikal.